"Wenn Du ein Land kennenlernen willst, gehe nicht zu den Ausgrabungsstätten, sondern in die  Tavernen." Das habe er so oder so ähnlich einmal gelesen. Michael Höller hat den Spruch nur  etwas abgewandelt und ihn zu seinem Lebensmotto gemacht: "Statt Tavernen sind es bei mir eben Stadien."[Allgemeine Zeitung / Rhein Main Presse, 1.8.2015]

zum Fußball 2019 (2)



zum Fußball 2019 (1)



Meine zahlreichen Bahnfahrten in den letzten Monaten hatten dazu geführt, daß sich über 2 000 Punkte auf meinem BahnCard-Bonuskonto angesammelt hatten. Diese Punkte tauschte ich gegen eine an einem Samstag (bis sonntags 10 Uhr) gültige „Netzkarte“ ein. Um das Teil möglichst gut auszureizen, kam eigentlich nur eine Destination in Frage, die ich schon seit zwei Jahren im Visier hatte: Das Stadion an der HTS* der SG Blau-Weiß Altes Lager bei Jüterbog (südlich von Berlin) [* Höhere (Flieger-)Technische Schule].

Als „Entdecker“ dieses Grounds gilt der Betreiber der FB-Seite „Fuppes muß dreckig bleiben“. Dieser hatte ihn über google maps aufgespürt und als einer der Ersten in der "Szene" bekannt gemacht. So merkwürdig wie der Ortsname Altes Lager klingt, umso herausragender sind auch die Alleinstellungsmerkmale des Platzes. Bemerkenswert ist nicht nur das Stadion an sich, sondern ganz besonders auch das es umgebende Gelände mit seinen sich darauf befindlichen Gebäuden, die sich scheinbar allesamt in einem Dornröschenschlaf befinden. Das Bauensemble ist geballte Geschichte aus verschiedenen Epochen (gesamt)deutscher Geschichte.

So war es mir in erster Linie wichtig, eine ortskundige Führung über das Gelände zu bekommen, als „nur“ ein Spiel zu sehen. Das mit dem Spiel klappte leider nicht, aber dafür das mit der Führung umso besser. Ich hatte drei Tage zuvor an die FB-Seite der „SG Blau-Weiß Altes Lager“ geschrieben und innerhalb kürzester Zeit hat mir „El presidente“ Sven zugesagt.

 


Am Bahnhof von Altes Lager wartet um 10:45 Uhr Sven (44, dreifacher Vater) und sein roter BMW auf mich. Wir düsen sofort Richtung Sportplatz und passieren dabei eine große Polizeikontrolle. Heute haben sie es auf Biker abgesehen, die sie gleich scharenweise einfangen.

Sven, der selbst lange Jahre für Blau-Weiß gekickt hat und sonst Borussia M´gladbach die Daumen drückt, schließt das Tor zum Gelände auf und entdeckt bald darauf einen ungebetenen Eindringling, der an einer alten Eisenstange Klimmzüge versucht. Freundlich aber bestimmt macht er ihm klar, daß er (Sven) hier der Hausherr ist und er (der Sportler) hier nix zu suchen hat. Wir parken am Vereinsheim und drehen in den nächsten knapp zwei Stunden eine ausgedehnte Runde.






Mitten „im Grünen“ sehe ich auf den Fußballplatz, der von einem gleichmäßigen kleinen Wall umgeben ist. Ab und an sind einige Stufen eingelassen, die als Treppe oder Tribüne genutzt werden können. Man munkelt, die Anlage solle das Berliner Olympiastadion im Miniaturformat darstellen. Gebaut wurde der Sportplatz und die umliegenden Sporteinrichtungen 1934, um Teilnehmern von Olympia 1936 Trainingsmöglichkeiten zu bieten.

Die Geschichte von Altes Lager geht zurück bis 1870, als das preußische Militär hier Barackenlager für über 9 000 französische Kriegsgefangene errichten ließ, die als Zwangsarbeiter beim Bau eines Schießplatzes helfen mußten.  

1916 wurde in Altes Lager u.a. ein Flugplatz für Luftschiffe geschaffen, 1933 wurde daraus ein Fliegerhorst. Von 1945 bis Mitte 1990 wurde ein Großteil des Ortes militärisch durch die Sowjets genutzt, es war also Sperrgebiet.

Sperrgebiet ist das Gelände um den Sportplatz noch heute. Schilder weisen darauf hin, daß „von der Liegenschaft erhebliche Gefahren für Leben und Gesundheit“ ausgehen. Gemeint sind die maroden Bauwerke, unterirdische Anlagen sowie Munition und Munitionsteile.


Wir gehen in die von außen gelb gestrichene Turnhalle. Dort trifft es mich wie ein Schlag! Boahh, so was total Geiles habe ich selten – nein, das habe ich noch NIE  gesehen! Eine riesige, verlassene Sporthalle mit Basketballbrett, Sprossenwänden, Spielfeldlinien auf dem Holzfußboden und Halterungen für Turngeräte an der Decke. Bis 1990 von den Russen genutzt und von diesen, wie mir Sven versichert, in tadellosem Zustand verlassen. Die Schäden haben Vandalen und der Zahn der Zeit verursacht.

Es ist DER Wahnsinn! Für mich, der sich leidenschaftlich für LOST GROUNDS interessiert, ist dies eine ganz neue Erfahrung. Denn ich hab schon mal den ein oder anderen LOST PLACE besichtigt, aber immer nur im Rahmen einer offiziellen Führung (Bunker, Geisterstadt in Namibia usw.). Dieses hier ist absolut authentisch! Nix herausgeputzt, in Szene gesetzt oder abgesichert.

Sven führt mich weiter zu einem Entmüdungsbecken und einer russischen Banja (Dampfbad). An den Wänden kleben Zeitungen aus UdSSR-Zeiten, z.B. die Ausgabe „Roter Stern“ vom 14. November 1980.





Nächste Station ist eine ziemlich marode Bogenschießanlage. Sieht mir sehr überdimensioniert aus. Das Dach kann jeden Augenblick einbrechen. Die Sowjets haben hier später reparierte Artilleriegeschütze ausprobiert.  

Stolz führt mich Sven über den Sportplatz, der jetzt auch über eine moderne Sprinkleranlage verfügt. Der Rasen wurde frisch gesät. Daher spielt der Club in diesem Jahr in Niedergörsdorf. Das tut Sven richtig weh. Er freut sich auf den Tag, an dem seine Blau-Weißen wieder auf dieses wunderschöne Fleckchen Erde zurückkehren können. Svens großer Traum ist es, einmal ein „großes Spiel“ im Stadion zu haben.

Sven zeigt mir das Vereinsheim, die Mucki-Bude und – ein weiteres Highlight – das verlassene Schwimmbecken. Als die Russen abrückten, wuchsen hier noch keine Bäume, grinst Sven. Nebenan, wo sich einst der Trainingsplatz befand, hat ein aus Jüterbog vertriebener Tennisclub eine neue Heimat gefunden. Dahinter liegt noch eine große Reithalle und ein großer Wohnkomplex , der ebenso verfallen ist, wie alles andere. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus.





Irgendwann drängt die Zeit und Züge ab Altes Lager fahren nur so alle zwei Stunden. Den um 12:45 Uhr muß ich kriegen. Sven chauffiert mich zum Bahnhof. Ich bedanke mich bei ihm für die dieses unvergessliche Erlebnis, das er mir ermöglicht hat. Sven hat das mit unglaublich viel Herzblut gemacht. Man merkt, wie sehr er an Blau-Weiß, aber auch an dem Ort Altes Lager hängt. Überhaupt ist er ein toller Typ, der mir mit seinem sehr differenzierten Denken imponiert hat. Ich bekräftige die Absicht, eines Tages wieder zu kommen, um dann doch ein Spiel zu sehen!

Ja, ich habe in diesem Bericht ziemlich viele Superlative verwendet. Aber ja doch, es ist nicht übertrieben!

Wer nun Lust bekommen hat, selber mal nach Altes Lager zu reisen, der sei gewarnt: Der Sportplatz wird, wie schon erwähnt, in 2019 nicht mehr bespielt. Das Gelände von Blau-Weiß Altes Lager heimlich zu betreten ist nicht nur verboten, sondern für Ortsunkundige auch gefährlich. Dagegen sind Besucher, die sich vorher formlos anmelden, herzlich willkommen! Einfach an die FB-Seite der „SG Blau Weiß Altes Lager“ eine Nachricht schreiben. Und es braucht nicht viel Glück, um anschließend von „El presidente“ die Örtlichkeiten gezeigt zu bekommen. Es lohnt sich.



Da sitze ich nun im Zug nach Berlin-Wannsee und da fällt mir plötzlich auf, daß ich durch Beelitz rollen werde. Beelitz! Die Heilstätten! LOST PLACE!!!

Als hätte ich nicht gerade erst einen LOST PLACE ersten Ranges besichtigt, da erscheint am Horizont wie aus dem Nichts ein weiterer. Ich glaube, ich mutiere zum Ubexer! Handy geschnappt, check check und kurz überlegt… und in Beelitz Stadt aus der Bahn gesprungen. Eine kurze Busfahrt später komme ich an den Heilstätten an.

Von denen hatte ich zwar schon mal gehört und vor allem tolle Bilder gesehen… aber viel mehr wußte ich nicht. Jetzt weiß ich, daß dieser Krankenhauskomplex zwischen 1898 und 1930 errichtet wurde, während beider Weltkriege als Lazarett diente (u.a. war Adolf Hitler 1916 drei Monate hier) und von 1945 bis 1994 von den Russen als größtes Militärhospital außerhalb der UdSSR genutzt wurde. Von Dezember 1990 bis zu seiner Ausreise nach Moskau im März 1991 hielt sich Erich Honecker in Beelitz auf. Mir stehen nur 90 Minuten zur Verfügung und die reichen, um mir einen ersten Eindruck zu verschaffen und um sicher zu sein, unbedingt wiederkommen zu müssen!






20.7.19 * 1. FC Magdeburg - Eintracht Braunschweig   2:4   * 17:45 Uhr * 3. Liga * MDCC-Arena, Magdeburg * Zuschauer: 16 102 * Eintritt: 28,80 EUR (Ticket-Zweitmarkt) * An- und Abreise mit der Bahn für umsonst *

Bei bisher so vielen LOST PLACES-Eindrücken am heutigen Tag freue ich mich nun auf Fußball in der modernen, nur zwölf Jahre alten MDCC-Arena. Die erreiche ich  – wegen des spontan eingeschobenen Zwischenstopps bei den Heilstätten – erst zur 6. Spielminute. Immerhin rechtzeitig, um keines der sechs Tore verpassen zu müssen. Die Gastgeber sind erschreckend schwach, sehr zur Freude des zahlreich angereisten Braunschweiger Anhangs.



Die Magdeburger Fans um mich herum sind nur am Meckern… schrecklich! Vielleicht ist die Hitze Schuld?! Dabei ging es dem 1.FCM doch schon Mal wesentlich schlechter. Zum Beispiel damals, als ich 1993 zum letzten Mal in der Stadt war. Da spielte man noch im alten, inzwischen abgerissenen Ernst-Grube-Stadion vor 350 Zuschauern (!) gegen den SC Charlottenburg.

Die Nordtribüne, wo sonst die Magdeburger Ultras stehen, ist leer. Man baut von Sitzplätzen auf Stehränge um, macht das Teil hüpfsicherer und erhöht die Kapazität des Grounds auf 30 000. Trotzdem gefällt mir diese 08/15-Spielstätte nicht besonders. Aber die sechs Tore entschädigten mich für das sonst maue Stadionerlebnis.



Nach Spielende dauert es ewig, bis mal die erste Straba zum Hbf herantuckert. So verpasse ich meinen geplanten Zug nach Hannover um zwei Minuten. Statt um 1:48 Uhr werde ich nun um 4:18 Uhr daheim sein – nicht ohne noch eine Stunde am Bahnhof von Stendal abgehangen zu haben.

Fazit: Altes Lager ist sooo geil! Es bekommt von mir das Prädikat „außergewöhnlichstes Stadion ever“. Daran gibt es keinen Zweifel. Überzeuge Dich selbst!



LOST GROUND Blücherpark ("Das Loch")


Prälat-Wolker-Anlage


17.7.19 * ESV Olympia Köln - Fortuna Köln III   3:1   * 20:00 Uhr * Freundschaftsspiel * Olympiastadion, Köln * Zuschauer: 23 * Eintritt: frei * An- und Abreise mit der Bahn zu 11,10 EUR *

War beim Surfen im Netz auf eine Serie über die kultigsten Fußballplätze in Köln gestoßen (bei www.koelnsport.de). Die da sind: 1. Blücherpark ("Das Loch", LOST GROUND), 2. Prälat-Wolker-Anlage (wegen der Moschee), 3. Winfriedia Mülheim (LOST GROUND), 4. Weidenpescher Park (LOST GROUND) und 5. das "Olympiastadion" von Köln. Die Nr. 2 bis 5 kannte ich schon, Nr. 2 und 3 sogar mit Spiel gemacht. Bei Nr. 2 gab´s damals die Moschee noch nicht.

Da ist mir in den Sinn gekommen, es sei eine gute Idee, daß vor ein paar Jahren verpasste Heimspiel von Olympia Köln nachzuholen. Zuvor wurde der wirklich bemerkenswerte Aschenplatz im Blücherpark gespottet.

Im zweiten Anlauf klappte es, den Platz im Nippeser Gleisdreieck (jetzt unter dem Namen "Olympiastadion" firmierend und mit Kunstrasen) zu kreuzen. Sehr angenehme, entspannte Atmosphäre in dieser grünen Oase - was einem auch die von allen Seiten heranrauschenden Personen- und Güterzüge nicht kaputt machen konnten. Fläzte mich auf einer dieser ungewöhnlichen Sitzbänke, nuckelte an meiner Faßbrause und verfolgte das Spiel. Konnte irgendwie nicht aufhören, mich über das ungewöhnliche Trainergespann von Fortuna Köln III zu freuen: Zwei kleine junge Damen (der kleinste Spieler war noch jeweils eine Kopf größer als die beiden), die Kommandos über den Platz brüllten. Erfolglos, aber mit netten Stimmchen (nicht so ein Sabine-Töpperwien-Gedröhne).

Eingang zum Olympiastadion und das "Pascha"


Lauschige Oase im Grünen: Biergarten, Tennis- und Fußballplatz






1. Tag, 13.7.2019

Bergisch Gladbach -> Liége-Guillemins mit der Bahn zu 25,40 EUR * alle anderen Bahnfahrten an diesem Tag zu 24,40 EUR * Fahrradmiete 1,15 EUR * Ü im Hostel Du Moulin Room in Liége-Bressoux zu 35 EUR

Vermutlich gehöre ich zu den ganz wenigen Groundhoppern, die so gut wie nie mit dem Auto unterwegs sind. Das hat keine ideologischen, sondern eher biografische Gründe: Es fehlt der erforderliche Führerschein. Und weil ich außerdem ganz gerne alleine reise, komme ich selten in die Verlegenheit, mich als Beifahrer in so eine Blechkiste zu setzen. Quasi als Flug-, Bahn- und ÖPNV-reisender Hopper ist es oft ungemein schwieriger (größerer Planungs- und Zeitaufwand), sein angepeiltes Ziel zu erreichen. Das macht mir nichts aus, im Gegenteil. 

Um an diesem Wochenende in Belgien neben einem Spiel auch an eine gute Ausbeute gespotteter LOST GROUNDS zu kommen, muß ein neues Verkehrsmittel her: Das (Leih-)Fahrrad. Mein bisheriger Rekord (auf dem eigenen Rad) bei einer bike & rail-Tour liegt bei 36 erstrampelten Kilometer (Emmerich -> Doetinchem und zurück), anno 2002. Inzwischen bin ich 17 Jahre älter und mein BMI ist ein paar Punkte größer geworden. Trotzdem registriere ich mich bei dem belgischen Fahrradverleiher Blue-bike und erhalte bald per Post meine persönliche Mitgliedskarte. Bei einem Jahresbeitrag von 12 EUR und bei einem Mietpreis von weniger als 2 EUR pro Tag kann man theoretisch nicht meckern.

Den ersten LOST GROUND auf meiner Liste kann ich noch bequem mit dem Zug erreichen. Nach knapp 40 min Fahrt bin ich in Amay, nicht weit von Huy / Tihange. Das Stade Freddy Terwagne liegt direkt an der Bahntrasse und ist frei zugänglich. Zuletzt wurde hier wohl vor etwa sieben Jahren gespielt. Die Dreiviertelstunde Aufenthalt in Amay reicht mir vollkommen, um diesen schönen, verwilderten Ground fotografisch festzuhalten.

Stade Freddy Terwagne, Amay
Rue des Béguines, Momalle


Zurück in Liége-Guillemins, dem schönsten Bahnhof der Welt, dauert es eine Weile, bis ich endlich die Blue-bike-Station gefunden habe. Die hat sich schön hinter den Gepäckschließfächern und vor dem Fahrradparkplatz versteckt. Beschilderung mangelhaft. Dafür klappt die Ausleihe am Automat zügig: Karte über das Lesegerät gezogen, eine Klappe öffnet sich und es erscheinen 6 bis 7 Schlüssel, die jeweils an einem Stift hängen. Welcher meiner ist, zeigt ein leuchtendes Lämpchen an. Ich ziehe meinen Schlüssel raus und die Klappe geht ratz-fatz wieder zu. Schnell das Fahrrad aufgeschlossen und mit ihm zu Gleis 1 gejoggt.

Dort wartet schon mein Nahverkehrszug nach Momalle. Die Fahrradmitnahme kostet in Belgien 4 EUR - je Fahrt. Nach 20 min bin ich schon da. Das Radeln auf einem Damenfahrrad ist gewöhnungsbedürftig: Beim Absteigen (rechtes Bein über Sattel schwingend) haue ich mir jedes Mal die Knochen an dem auf dem Gepäckträger aufgeschraubten Körbchen.

Das Stadion des Royale Union Momalloise an der Rue des Béguines ist offen. Der Ground wirkt gar nicht so LOST, wie ich es erwartet hätte. Von den Pfosten blättert zwar kräftig die Farbe ab und die Tornetze sind schon etwas antiquiert, aber sonst macht der Platz einen guten Eindruck. Wie ich später erfuhr, sollte der Club wegen der mangelhaften Umkleiden hier nicht mehr spielen - aber derzeit hat er wieder die Erlaubnis dazu.


Rue de la Sâte, Hodeige

Ein Dorf weiter, in Hodeige, ist die Sache glasklar. An der Rue de la Sâte (und auch sonst nirgends) spielt Royale Union Hodeige schon lange nicht mehr. Die Tore sind weg und die Betonpfosten der Spielfeldumzäunung liegen auf einem Haufen. Das einstige Vereinsheim steht offen und ist von Vandalismus gezeichnet.

Ich radele weiter zur Bahnstation Remicourt. Meine erste Radtour endet nach 9 km. Das ist noch steigerungsfähig. Warte fast ne Stunde auf den Zug zurück nach Lüttich. Da stelle ich mein blaues Rad zurück und nehme den nächsten Zug ins benachbarte Seraing.


Standard Liége - Racing Strasbourg   0:2 * 17:30 Uhr * Freundschaft * Stade du Pairay, Seraing * Zuschauer: 2 500 * Eintritt: 15 EUR *

Dort steht für mich Ground No. 500 an. Den hätte ich gerne schon früher gemacht (z.B. im Bootham Crescent in York), aber einige Spiele konnten ja meinerseits nicht besucht werden (siehe Svalbard-Bericht).

Seraing ist aber eine, sorry, total abgefuckte Stadt. Riesige brachliegende Industrieareale, heruntergekommene Häuser und Straßenzüge. Definitiv kein guter Platz zum Sein. Zum Glück muß ich es hier nur gut drei Stunden aushalten.

Bahnhof Seraing


Stade du Pairay, Seraing


Vom Bahnhof latsche ich zum Ground, besorge mir mein Ticket für die Haupttribüne Mitte und verbringe die Zeit bis zum Anpfiff mit dem Konsum belgischer Spezialitäten aus der Fritteuse. Zwischen den roten Standard-Fans springen auch ein paar Straßburger herum.

Die Tribüne wird ziemlich voll, das Spiel aus Sicht der Belgier wird ziemlich mies. Support gibt es natürlich keinen. Im Auswärtsblock stehen nicht mehr als zwanzig Franzosen herum. Um aus dem Fritten-Koma rauszukommen, will ich mir in der Pause an der Bar einen Kaffee holen. Wie in Belgien nicht unüblich, muß man zuerst EURO in Coins, Jetons oder sonstwas umtauschen. Der einzige Umtauschautomat ist halb defekt, d.h. er nimmt nur Scheine, keine Münzen. Also investiere ich einen Fünf-Euro-Schein, um zumindest einen Zwei-Euro-Kaffee plus irgendwas zu ergattern. Kaffee gibts aber keinen. Tolle Scheiße! Der eine wird übellaunig, wenn er nix mehr zu Rauchen hat - bei mir drückt Koffeinentzug auf die Stimmung. Fazit: Zum 500. ein Griff ins Ground-Klo gemacht.

Fuck coins!



Am Ende dieses Regenbogens ist höchstens Altmetall.
ArcelorMittal Ringmill, Seraing


Die Preise für Ho(s)tels kommen mir in Belgien immer wieder astronomisch hoch vor. Und trotzdem scheinen die Dinger stets hochgradig ausgelastet zu sein. Ich hab mir das billigste Privat-Zimmer genommen, was vor Tagen online zu haben war. Das "Du Moulin Rooms" in Bressoux besteht aus eins, zwei Zimmern in einem dieser schmalen, dreistöckigen alten Häusern. Daheim wohne ich sicher nicht in einem Palast, aber hier bekomme ich fast Klaustrophobie. Und durch den Spiegel an der Wand schaut mir irgendwer zu.... oder irre ich mich? Den Vermieter bekomme ich nicht zu sehen. Einlaß via Sprechanlage, bezahlt war schon und beim Auschecken einfach Schlüssel stecken lassen. Bon soir!


Dieser Spiegel.... hm, ich fühle mich beobachtet!



2. Tag, 14.7.2019

(Liége-) Bressoux -> Tienen mit der Bahn zu 9,40 EUR * Fahrradmiete 1,15 EUR * Tienen -> Bergisch Gladbach mit der Bahn zu 33,75 EUR


Arsenal, Goodison... ?! Zur Premier League ist es nicht mehr weit.

Um 10 Uhr rollt mich die Belgische Bahn in Tienen ein und ich kann flugs (m)ein schon liebgewonnenes Blue-bike unter den Hintern nehmen. Um 18:05 Uhr muß ich wieder zurück am Bahnhof sein, egal wie. In den nächsten acht Stunden möchte ich so viele LOST GROUNDs wie möglich ab(g)rasen. Mit einem Stapel ausgedruckter google-maps-Pläne geht´s durch das Städtchen Tienen in Richtung Süden. Der Wettergott meint es gut mit mir: Bedeckter Himmel, weder Sonnenschein noch Regen. 

Schmeckte besser, als sie aussehen!

Nach 5,5 km komme ich am intakten Ground von K Arsenaal Goetsenhoven vorbei. Die Tore stehen sperrangelweit offen, keiner da. Gute Gelegenheit, ein paar Fotos zu machen. Am Ortseingang von Outgaarden gönne ich mir Erdbeeren aus dem Automaten. Eine willkommene Stärkung, sind doch am heutigen Sonntag alle bisher gesichteten Kioske, Frituuren geschlossen.

Perle: Jongensschoolstraat, Outgaarden


Dann in der Jongensschoolstraat der erste Höhepunkt der Tour: Das alte verlassene Stadion von Sporting Outgaarden. Kein Zaun oder sonst etwas hindert mich am Reingehen. Das Vereinsheim steht offen und ist offenbar schon öfters von Vandalen heimgesucht worden. Auf dem Spielfeld wuchert mannshoch irgendwelches Gestrüpp. Die Stehtribüne mit ihren fast verwitterten Werbebotschaften ist geil. In der Mitte kann man noch eine Tafel mit dem Vereinsnamen erkennen. Drei leere Bierflaschen lassen mich glauben, daß hier erst vor Kurzem noch ein Stadionromantiker sich bei untergehender Sonne einen gezwitschert hat.



Carpe diem, also weiter. 7,4 km später bin ich in Pietrain an einem Rugbyplatz. Hier hat früher mal Patro Piétrain FC gekickt. Es gibt nix besonderes zu sehen. Die Holztribüne haben vermutlich die Rugby-Hornissen gebaut, aber die Auswechselbänke könnten noch aus der Fußballzeit stammen.

War ich bisher auf Radwegen und asphaltierten Straßen unterwegs, ändert sich jetzt der Untergrund. Die von google-map ausgewiesene Straße Rue de la Dingenskirchen entpuppt sich als Feldweg über einen Zuckerrübenacker. Später kommt noch der berüchtigte belgische Pflasterstein dazu. Zum Glück halten meine Reifen dem Bauschutt unterwegs stand (Reifenpanne = worst case !) und ich lande nicht irgendwo in einer Sackgasse.

Überbleibsel vom Fußball auf dem Rugbyplatz Pietrain


Rue de la Chapelle Saint-Jean


im Dörfchen Noduwez


Stade Paul Landeut, Noduwez


In Noduwez inspiziere ich den LOST GROUND Stade Paul Landeut. Ein paar Familien räumen in der großen Halle, die einst dem JS Noduwez gehörte, auf. Die gucken zwar doof, aber marschiere über das Spielfeld und mache meine Fotos. Ganz nett hier, doch ground-archäologische Sensationen gibt es keine zu vermelden.

Erstmals ärgert der Gedanke, mal so langsam wieder zurückzuradeln, meinen Ehrgeiz. Die Beine werden schwer und frisches Wasser ist von Nöten. Aber einer geht noch. Weiter nach... Orp-Jauche (kurzer spotting-Stop beim Stade Albert Dupont) und dann nach nur Jauche. Was dem Russen in Belgien sein Huy, ist dem Deutschen der Ort Jauche... ein Name für derbe Späße. Hier gibt es endlich einen Supermarkt, der in den Nachmittagsstunden geöffnet hat.

Nach einer kurzen Erfrischung stehe ich bald am LOST GROUND Stade Christian Jabon, wo einst der FC Jauchois kickte. Der hat so ziemlich alles, was ein typischer LOST GROUND nicht haben sollte: Tornetze, gemähten Rasen, fast nagelneue Stadionumrandungen und die Mannschaftsbänke sehen aus, als hätte man sie erst vor drei Jahren dahingesetzt. Komisch.

Jetzt hab ich 29 km geschafft und bin so ziemlich platt. In der Ortsmitte von Jauche sehe ich ein Schild, das in 3 km [tatsächlich sind es 3,9 km... Frechheit] das Dorf Folx-des-Caves ankündigt. Das wäre mein theoretisches Ziel für heute. Weiter radeln oder zurück? Wenn mich da wieder so ein Kack-Ground wie hier in Jauche erwartet, wäre ich untröstlich (beim Planen meiner Ziele schaue ich mir die verlassenen Stadien im Internet vorher gar nicht so genau an, um mich dann etwas mehr überraschen lassen zu können).


...jetzt auch noch die berüchtigten Pflastersteinstraßen.


Die letzten Kraftreserven mobilisiert und ab nach Folx-les-Caves, das (der Name lässt es erahnen) für irgendwelche Grotten bekannt ist. Ich parke mein Blue-bike am ehemaligen Vereinsheim und höre laute Stimmen und Gelächter. Eine gemischte Gruppe Leute in meinem Alter spielt auf dem Platz Boule. Offensichtlich sind die schon so blau wie mein Fahrrad. Ich frage, ob ich mich hier was umschauen kann. Ja, kein Problem. Einer aus der Gruppe ist neugieriger als die anderen und fragt, ob ich ein Urbexer sei. Nein, bin ich nicht. Noch nicht?!

Die Gesellschaft verlagert ihr Treiben ins Vereinsheim. Nach meinem Rundgang über den Platz werde ich eingeladen, a) ein Bier mitzutrinken und b) die alte Umkleide und die Duschen anzuschauen. a) muß ich ausschlagen und b) nehme ich gerne an. Mein Führer erklärt mir, daß er hier als Sechsjähriger zuletzt unter der Dusche gestanden hätte. Das ist gut 20 Jahre her. Im ehemaligen Kassenhäuschen steht noch ein Wägelchen für die Kreidemarkierung auf dem Rasen. 


verwaiste Fußballer-Duschen in Folx-les-Caves


Jetzt ist es 14:45 Uhr. Um nach Folx zu kommen, habe ich also fast fünf Stunden gebraucht. Für die Rückfahrt bleiben mir maximal drei Stunden. War ich bisher prima mit meinen google-Plänen ausgekommen, hab ich für die Rückfahrt die Navigation übers Handy geplant. Hatte ja vorher keinen Schimmer, wie weit ich es mit dem Rad überhaupt schaffen würde.

Da stehe ich so an einer Kreuzung in Folx herum und drehe mein Handy in alle Himmelsrichtungen, als mich ein Radsportler anspricht. Ob er mir helfen könne? Oh ja, ich möchte nach Tienen zurück! Möglichst mit geringem Kraftaufwand, denke ich mir. Kein Problem, er könne mich zu einem Radweg bringen, der auf einer alten Bahntrasse verläuft und auf dem ich immer gerade aus bis nach Tienen fahren könne. Wie geil! So fährt der nette Kerl mit mir 3 km gen Westen, bis wir auf den Radweg RAVeL 2 BE 142 stoßen. Damit ist die 20 km-Rückfahrt nach Tienen fast ein Kinderspiel. Nicht einmal muß ich auf mein Handy gucken, einfach immer gerade aus.

BE 142 Hoegaarden – Namur ("La Croix de Hesbaye", RAVeL 2)
Fata Morgana? Nee, der Bärenklau war echt!


Wenn man zwei Tage lang nur nach überwucherten, vergammelten Sportplätzen Ausschau hält und bei jeder verrotteten Betonfertigteilemauer einen Adrenalinschub bekommt, können einem die Sinnesorgane schon mal einen Streich spielen. Soweit war es mit mir in Hoegaarden. Da radele ich so daher, als ich plötzlich auf dem Gelände neben mir im Dickicht Torstangen und Trainerbänke sehe. Muß ich der Erschöpfung Tribut zollen und mich Wahnvorstellungen ergeben? Ich werfe mein Blue-bike ins Grass und schaue mir das genauer an. Bärenklau und Dornengewächs halten mich nicht auf, um diesen mir völlig unbekannten LOST GROUND zu durchschreiten. Das I-Tüpfelchen einer anstrengenden wie geilen Radtour.

Begijnhofkerk, Tienen
Stade Julien Bergé


Bin gegen 17 Uhr zurück in Tienen. Bleibt noch Zeit, einmal das Bergéstadion des KVK Tienen zu umradeln. Dann reicht es mir und in Bahnhofsnähe wird ne Frituur angesteuert. Es sind nicht unbedingt die 57 km, die mich geschafft haben, sondern viel mehr die Tatsache, über sechs Stunden auf nem Damenrad über Straßen, Feld und Wiesen geeiert zu sein, so daß ich meine Beine längst nicht mehr spüre. 

Hat Spaß gemacht. Ich liebe Belgien!



zum Fußball 2019 (1)