Im Frühjahr erinnerte mich die UEFA gleich mehrfach daran, dass ich mein seit Jahren (?) gebuchtes Ticket für Spiel 43 (EURO-Achtelfinale im Hampden Park, Glasgow) wegen Corona zurückgeben könne. Irgendwann gab ich dem Drängeln des Turnierorganisators nach. Denn obwohl Corona auch im Königreich auf dem Rückmarsch war, blieben die erhofften Lockerungen für Einreisende vom Festland aus. So mußte selbst der längst überfällige Besuch bei meiner seit August 2020 in London lebenden Tochter Pia (zuletzt gesehen am 14. Oktober 2020, schnief) auf unbestimmte Zeit verschoben und die Flüge nach Stansted mehrfach nach hinten umgebucht werden.
Um die zwei Wochen Urlaub nicht daheim abzuhängen zu müssen, entschied ich mich für eine Flucht nach Georgien. Den Länderpunkt hatte ich zwar schon, aber bisher kannte ich nur Tbilissi. Ich hatte noch die Unmengen toller Fotos und Eindrücke im Kopf, die Hopper Carlo Farsang vor ein, zwei Jahren von einem seiner Trips in den Kaukasus auf FB gepostet hatte… und in den Erovnuli-Ligen rollte weiterhin der Ball.
In Georgien wütete Corona zwar deutlich krasser als z.B. im UK, aber die Einreise auf dem Luftweg sollte hingegen problemlos möglich sein. Als bis dahin vollständig geimpfter Tourist machte ich mir keinen Kopf darüber, mir unterwegs was einzufangen, um dann irgendwo festzusitzen.
Irgendwann Anfang Juni stornierte Wizz Air kommentarlos meine beiden Flüge nach/von Kutaissi. Das fand ich irritierend, zumal der identische Rückflug immer noch buchbar war. Dann fand ich es plötzlich eine tolle Idee, ein Wochenende in Katowice einzuschieben und von dort aus weiter nach Kutaissi zu jetten.
18.6.21 (1. Tag)
DTM → KTW mit Wizz Air zu 68,99 € * 2x Übernachtung im Ozoowane Apartamenty, Katowice zu je 24,33 € / Nacht
Die DB bot ihr volles Programm auf, um mich aufzuhalten: Ausfall einer S-Bahn, 45-minütige Verspätung eines ICs und noch über 20 Minuten Verzögerung bei der Weiterfahrt eines RE wegen Personen im Gleis – es nutzte nichts. Ich erreichte meinen Abendflug am ungeliebten Flughafen DTM rechtzeitig.
Im Flieger sammelten die Stewardessen von jedem Passagier jeweils zwei aufwändig ausgefüllte Formulare ein, von denen ich mir nur vorstellen kann, dann sie 10 Minuten nach unserer Ankunft ungelesen in den Shredder gewandert sind. Nach der Landung wedelte ich einem Soldaten mit meinem negativen Antigen-Test etwas vor der Nase herum und der Weg nach Polen war frei.
19.6.21 (2. Tag)
Die nächsten zweieinhalb Tage sollten aus dem Spotting von etwa zwanzig Stadien und LOST GROUNDS im Oberschlesischen Industriegebiet bestehen. Leider passte nur ein match in Tornowskie Góry in das eng getaktete Programm. Eine brauchbare Alternative wäre Gornik II Zabrze – Ruch Chorzow gewesen, aber die spielten leider leider hinter verschlossenen Toren. Als Transportmittel diente mir die Tramwaje Śląskie (2x Tageskarte zu je 2,44 EUR) und UBER (insgesamt 7 Fahrten über 62,2 km zu 42,95 EUR). Ohne Uber hätte ich vermutlich nur 1/3 aller Grounds geschafft, denn die Trams rollen in Oberschlesien gefühlt eher selten als oft.
Los ging es am Samstagmorgen im südlichen Kattowitz mit dem Stadion Gwardii, das schon seit den 1980er Jahren brach liegt. Wie zu erwarten, führte die sommerliche Vegetation dazu, dass frei zugängliche Ränge kaum und das Spielfeld gar nicht mehr zu erkennen waren. Der Winter ist die definitiv bessere Zeit, solche Objekte zu besuchen.
Nicht weit entfernt liegt das Stadion des KS Rozwój Katowice. Das Gelände war stark gesichert, ein Reinkommen unmöglich. Hier wurde mindestens bis 2015 gekickt, evt. noch etwas länger. Der in einer Kurve angebrachte Schriftzug „Kopalnia Wujek“ (bezeichnet das nördlich hinter dem Ground liegende Steinkohle-bergwerk „Wujek“, das sich seit 1899 in Betrieb befindet) war fast gänzlich überwuchert.
Danach war ein großer Sprung erforderlich, um zum Stadion im. Edwarda Szymkowiaka von Polonia Bytom zu gelangen. Was für eine Perle, geil! Allein schon das historische Stadion-Tor ein echter Hingucker. Die Kassenhäuschen und alten Eingänge könnte man schon als LOST einstufen. Für das heutige Klientel braucht es Drehkreuze aus Edelstahl und Barcode-Scanner. Jedoch traurig, dass statt der einst 60 000 Zuschauer nun nicht einmal mehr 10% davon reingehen. Im Stadion hat es zuletzt einige Veränderungen gegeben: Alle Sitzschalen und das Zeltdach auf der Haupttribüne sind ebenso verschwunden wie das Marathontor. In der gesamten östlichen Kurve sind die Stehränge entfernt worden. Es gibt wohl Pläne für weitere Veränderungen, die vermutlich den Charme des „alten Beuthener Stadions“ gänzlich killen werden.
In Bytom-Karb, wohl so etwas wie das Duisburg-Marxloh Polens, kickte einst GKS Czarni Bytom. Deren ehemalige Spielstätte ist aus der Luft (via google-map) gut zu erkennen. Vor Ort sind dann aber nur einige Stufen und ein Kassenhäuschen auszumachen.
19.6.21 * Gwarek Tarnowskie Góry - PTS Ślęza Wrocław 0:2 * 15:00 Uhr * III. Liga, gr. III * Stadion Tarnowskie Góry * Zuschauer: 100 * Eintritt: 10 PLN
Nach 248 Tagen dann doch endlich mal ein Stadionbesuch in Kombination mit einem Fußballspiel. Geht doch! Gwarek bedeutet soviel wie Bergmann. Hier haben die Bergmänner, anders als sonst in Oberschlesien üblich, keine Kohle gefördert, sondern Silber! Der Ground war nichts besonderes (es gibt ein modernes massiv-klotziges Tribünchen aus Stahlträgern) und das Spiel nicht der Rede wert. Mein Hauptinteresse an diesem Nachmittag – ich gebe es gerne zu – galt dem Grill, auf dem die Würstchen viel zu lange brauchten, um essfertig zu brutzeln. Ich hab mich nicht nur einmal angestellt…
Nach dem Spiel ließ ich mich von einem Uber-Heini (bisher hatte ich nur weibliche Chauffeurinnen gehabt) zur ul. Gabriela Narutowicza in Bytom schaukeln. Ich staunte nicht schlecht, dass dort fast gar nichts mehr war. Statt dem LOST GROUND Stadion ul. Narutowicza, wo einst KS Ruch Radzionków kickte, fand ich nur eine frische Agglomeration von Rossmännern, KFC oder McDonalds vor. Mist, ein paar Monate zu spät hier. Zu meinem Trost gab es hinter den neuen Betonklötzen wenigstens noch als Überbleibsel den intakten Nebenplatz und einen Container des Clubs.
Ein Ground ging an diesem Tag noch, nämlich das Stadion GKS Szombierki, auch in Bytom. Hier verweigerte mir ein Aufseher den Zutritt zum Stadion („Hier wird renoviert“), aber nach einem kurzen Spaziergang durchs Gebüsch kurz das Teleobjektiv gezückt und ich hatte meine Eindrücke von dem Teil eingefangen. Ich bemerkte ein immer wiederkehrendes Muster, das viele alte Stadien in Polen aufweisen: Anlage mit Laufbahn und einem recht groß angelegten Stadionwall, der inzwischen weitestgehend begrünt wurde. Liegt wohl daran, dass die damals (z.T. noch vor dem 2. Weltkrieg von deutschen Clubs) errichteten Spielstätten für um die 30 – 40 TSD Zuschauer ausgelegt waren und mangels Bedarf nach und nach ein Rückbau erfolgte.
Nun konnte ich mit der Tram durch mehrere Städte zurückzuckeln, bis ich endlich wieder in Katowice an meiner Unterkunft war. Zuletzt war man hier in Oberschlesien 2012 während der EURO auf Durchreise gewesen. Ich wurde mir bewußt, wie sehr ich diese Gegend heute liebgewonnen hatte. Das Kohlerevier hat so viele malocher-hässlich-authentische Ecken, so dass man aus dem Fotografieren gar nicht mehr herauskommt. Vieles von dem, was dem Ruhrgebiet aus seiner vergangenen Industrieepoche verloren gegangen ist, gibt es hier noch zu erleben. Man muß einfach nur herumlaufen oder eben ein Stück Straßenbahn fahren.
20.6.21 (3. Tag)
Heute sollte ich mich mit Zbigniew treffen, der vor einem halben Jahr meiner FB-Gruppe „LOST FOOTBALL GROUNDS“ beigetreten war. Ich stand bereits im Vorfeld unseres Treffens mit ihm in engem Kontakt und er hat mich mit Unmengen wichtiger Informationen versorgt, so dass nur so meine Tage in Oberschlesien zu einem riesigen Erfolg werden konnten. Jeszcze raz dziękuję za to!
Wir hatten uns für 9 Uhr vor dem Stadion von KS „Stal“-19 Brzezinka, einem LOST GROUND in Mysłowice (südöstlich von Katowice, wo Zbigniew mit seiner Familie wohnt) verabredet. Ich hielt es für eine gute Idee, mit dem Zug bis zu dem Haltepunkt Mysłowice-Brzęczkowice zu fahren (ein paar Stationen weiter kommt Auschwitz, doch da wollte ich heute nicht hin). Denn der selten frequentierte Bahnhof liegt nur 250 m Luftlinie von dem Stadion entfernt. Aber denkste! Den erhofften Fußweg entlang der Bahngleise zum Ground gab es nicht. Stattdessen nur unpassierbarer Birkenwald und Gestrüpp. Der kürzeste Fußweg ist dabei 10x (!) länger als angenommen, nämlich 2,5 km. Mist. Um nicht einen halben Tag zu spät zum Treffpunkt zu kommen, mußte ich Zbigniew anrufen, dass er mich hier in der Pampa aufgabelte – was er auch freundlicherweise tat.
Vom Stal-Stadion von Brzezinka, das bald gänzlich abgerissen werden soll, war nur noch die Einfahrt, ein Kassenhäuschen und das Clubhaus übrig. Das Spielfeld selbst war völlig von Grünzeugs überwuchert. Ich krabbelte alleine auf das abgezäunte Gelände und wurde stutzig, als ich auf einen von einem Rasenmäher gebahnten Weg zum Vereinsheim stieß. Im Wind flatternde Wäsche waren ein weiteres Indiz, dass hier jemand wohnte. Legal? Illegal? Wer weiß?! Da ich jedenfalls auch illegal hier war und mein Mittelchen gegen angreifende Hunde nicht dabei hatte (ist ja immer so: Wenn man etwas braucht…), sah ich von einer weiteren Inspektion des Gebäudes ab.
Zbigniew nahm mich anschließend in seinem Wagen mit auf eine Tasse Kaffee in den Kattowitzer Stadtteil Nikiszowiec. Das ist eine kleine, in einen sehr guten Zustand versetzte Arbeitersiedlung, die aus geilen (ja, geilen!) Backsteinhäusern besteht. Gebaut wurde sie einst von Deutschen für die Bergleute der Gieschegrube.
Von Zbigniew, eingefleischter Fan von GKS Katowice (und überglücklich über deren Rückkehr in die 2. Liga), diskutierte ich über Lukas Podolski (dessen Wechsel zu Gornik Zabrze zwei Wochen später bekannt gegeben wurde) und über unsere beider Nationalmannschaften und ich erfuhr viele interessante Sachen über die Fanszene in Polen oder historische Begebenheiten. So befand sich z.B. in Mysłowice einige Jahrzehnte lang das sogenannte Dreikaisereck, an dem die Grenzen der Kaiserreiche Russland, Deutschland und Österreich-Ungarn aufeinander trafen und was zu Kaisers Zeiten ein beliebtes Ausflugsziel war.
Bevor Zbigniew wieder ins Familienleben abtauchen mußte, bot er sich an, mich noch zu dem nächsten Ziel auf meiner Stadionliste zu fahren. Das passte gut, denn ich wollte zu einem LOST GROUND in Dąbrowa Górnicza, das am äußeren Rande des Kohlereviers liegt. Zbigniew gab mir den Tip, ich solle bloß nicht auf die Idee kommen, einen Bewohner von Dąbrowa Górnicza als Schlesier zu bezeichnen. Denn ursprünglich gehörte die Stadt bis zum deutschen Überfall auf Polen 1939 nicht zu Schlesien, worauf man sehr stolz war. 1975 wurde die Stadt gegen den Willen der Bürger an die Woiwodschaft Katowice angegliedert und gehört seitdem (Mist, schon wieder) zu Schlesien.
Aber Grenzen sind ja manchmal nicht von langer Dauer. So befand sich das Stadion Zagłębianka, von dem leider absolut nix mehr zu sehen war (auf google-map sah das besser aus) mal auf dem Stadtgebiet von Będzin (früher), mal auf dem von Dąbrowa Górnicza (heute). So mußte sich auch der dort beheimatete Klub von Zagłębianka entsprechend umbenennen. Ordnung muß sein, auch in Polen.
Weiter ging es, diesmal mit der Tram und der polnischen Bahn, den ganzen Tag durch Städte und zu Stadien, von denen ich zuvor oft noch nie gehört hatte: Stadion im. Józefa Pawełczyka in Czeladź, Stadion Miejski in Będzin (beim Vorbeifahren entdeckt, was für ein geiler Zufallsfund), Stadion Ludowy in Sosnowiec und die Stadien KS Sparta und Walka Makoszow jeweils in Zabrze. Dazu kam noch der LOST GROUND KS Koksownik in Zabrze, wo schon die Bagger angerollt waren, um das Gelände endgültig umzupflügen. Hier soll wenigstens kein Supermarkt, sondern eine Fußball-Halle entstehen.
Wieder ging ein langer Tag mit viel Herumfahrerei und dem Gewinn von noch mehr Eindrücken zu Ende. Der Tag hätte für mich endlos so weitergehen können. Oberschlesien, Du rockst!
21.6.21 (4. Tag)
KTW → KUT mit Wizz Air zu 124,37 € * 11x Übernachtung im Wellconect Apartment, Kutaisi zu je 20,91 € / Nacht
Bei einer der Uber-Fahrten am Samstag war mir unterwegs ein seltsames Haus aufgefallen. Ich hatte es nur aus einem Augenwinkel für den Bruchteil einer Sekunde gesehen und mich ziemlich gewundert. Das ließ mir keine Ruhe und ich wollte mir das nochmal genauer anschauen. Zum Glück hatte ich mir die ungefähre Stelle gemerkt: In Bahnhofsnähe von Ruda Śląska. Also hin da.
Ich habs schnell gefunden. Ja, wirklich eine ungewöhnliche Fassade. Drei dicke Säulen tragen einen Balkon und zwischen zwei der Säulen ein Fenster in einem wuchtigen Erker, das ich vor 2 Tagen für einen Trichter für irgendein Schüttgut gehalten hatte. Abgefahren! Sehenswert!
Da der Ground von Slavia Ruda Śląska ganz in der Nähe, jenseits des Bahnhofs, lag, nutzte ich die Gelegenheit, auch hier mal vorbeizuschauen. Ein Kleinod im Grünen präsentierte sich mir, eine weitere Perle oberschlesischer Fußballplätze.
So, was stand noch auf meiner Bucket List? Ja, klar! Der Sender Gleiwitz. Wem das nix sagt, der soll gefälligst googlen. Grundwissen deutscher Geschichte! Setzen! Also flugs nach Gliwice, der Heimat des kölschen Poldis, gerailt und hingeUbert. Sendemast und -gebäude befinden sich nahezu im Originalzustand. Beides liegt in einem Park, der frei zugänglich ist. Als ich so vor dem Sendemast stand, lief es mir kalt den Rücken runter. Und es tut es immer noch, wenn ich mich daran erinnere. Ich denke, es ist weniger wegen der historischen Bedeutung des Bauwerks, sondern vielmehr wegen seiner Einzigartigkeit. Der Turm ist mit seinen 118 Metern der höchste Holzturm der Welt. Holzturm! Steht seit 1935! Ich bin immer noch fassungslos! Wahnsinn!
Wenn man schon in der Nähe ist, dachte ich mir, schaue ich mir die moderne Spielstätte von Piast Gliwice an. Brauchte keine 20 Minuten, um bis vor dessen Tore zu laufen. Ein Security-Heini erlaubte mir, kurz ins Innere zu gehen, um zwei (nicht mehr!) Fotos zu schießen. Bedankt! Eines der typischen seelenlosen Neubauten. Interessanter war da schon der Parkplatz des Stadions. Dort stand ein alter Turm und irgendwelche Grundmauern, vielleicht einer Kirche. Wüsste zu gerne, was das früher einmal war.
Am Nachmittag trudelte man am Flughafen Katowice am Check-In für den Wizz Air Flug nach Kutaissi ein. Da staunte ich nicht schlecht, drei weitere deutsche Hopper anzutreffen. Einen davon kannte ich sogar, auch wenn ich ihm zuletzt 1990 beim WM-Spiel UdSSR – Kamerun in Bari begegnet war: Dirk S., alias Teamchef. Die anderen beiden waren Dirks Begleiter Boris und Moritz, auch zwei Vielreisende in Sachen Groundhopping.
Die Einreise nach Georgien gestaltete sich noch einfacher als zuvor in Polen. Eine zuvor durchgeführte online-Anmeldung interessierte niemanden, ich mußte nur meine beiden Impfnachweise zeigen und durch war ich. Dirk am Schalter neben mir war genauso fix und entschwand mit den Wörtern „Taxi“ und „Samtredia“ in die Nacht.
Als Nicht-Autofahrer & Alleinreisender habe ich zuletzt 2019 in Armenien den „globalen Dienstleister für Transferbuchungen und Chauffeurfahrten“ GetTransfer.com genutzt und war ganz zufrieden damit. Jetzt probierte ich zudem auch GoTrip.ge aus, die es nur in Georgien gibt. GoTrip eignet sich gut für direkte Fahrten von Punkt A nach B. Man bekommt bei der Anfrage gleich einige Fahrer samt Fahrzeug vorgeschlagen und kann einen davon buchen. Bezahlt wird erst nach der Fahrt in cash. Fotostopps unterwegs sind kein Problem. GetTransfer.com ist hingegen besser, wenn man quasi einen Wagen stundenweise mieten will, weil man auf der Route evt. ein Fußballspiel mitnehmen will. Hier beschreibt man seinen Reisewunsch und bekommt dann von einigen Fahrern Angebote. Bei GetTransfer.com bezahlt man im Voraus.
Vom Flughafen Kutaissi hatte ich Georgi, einen GoTrip-Fahrer gebucht. Für 31 GEL (8,54 EUR) sollte er mich zu meinem Apartment in die Innenstadt von Kutaissi fahren. Weil ich noch keine Lari hatte, bot ich ihm einen 10 EUR-Schein an. Aber er bestand auf Lari und so fuhr er mich vor eine Wechselstube. Bei der war gerade das System abgestürzt. Die Straßen waren menschenleer. In Georgien galt gerade eine coronabedingte Ausgangssperre ab 22 Uhr, ausgenommen waren – wie praktisch – Fahrten von/zu Flughäfen. Statt Wechselstube zog ich ein paar Scheine am Automaten. Natürlich konnte mir Georgi später auf 50 Lari nicht herausgeben und akzeptierte dann doch die 10 EUR in bar. Nervensäge!
Kurz vor Mitternacht empfing mich meine Vermieterin in ihrem niegelnagelneuen Apartment. Das sei das beste Apartment in der ganzen Stadt, meinte sie stolz. Und damit hatte sie total recht. So eine geile Absteige (geräumig, mit teurer Küche und wertvoller Ausstattung, Klimaanlage (sehr, sehr wichtig!) usw.) hatte ich tatsächlich noch nie. Ein ideales Basislager für die nächsten 12 Tage.
22.6.21 (5. Tag)
Nachdem der Kühlschrank gefüllt war, ging ich ein wenig die nähere Umgebung erkunden. Meine Unterkunft lag strategisch günstig zwischen den Colchis Fontänen und dem Bahnhof Kutaissi I. Einen Block weiter entdeckte ich einen genialen LOST GROUND, das Dinamo Stadium. Ein Verein namens Dinamo Kutaisi wurde zuletzt 1955 Meister der Georgischen Sowjetrepublik. Ob die es waren, die hier früher kickten?
Ich lief weiter den Berg in Richtung Stadtrand hinauf und inspizierte die aufgegebene Sapichkhia Railway Station und den gleichnamigen Friedhof nebenan. Ja, ich mag sowas.
Der Bahnhof Kutaissi I ist ein ziemlicher überdimensionierter Klotz: Riesig und fast leer. Es gibt von hier aus kaum noch Zugverkehr, seit die Station zu einem Sackbahnhof geworden ist. Früher existierten wohl noch einige weiterführende regionale Verbindungen. Jetzt ist nur noch die Strecke ins benachbarte Rioni übergeblieben, über das man an die Hauptstrecke Tbilissi – Batumi angeschlossen ist. Ich hatte mir schon einige Zugverbindungen herausgeguckt, für die ich mir nun Fahrkarten kaufen wollte. So ganz old school Papiertickets am Schalter. In einer Halle von der Größe eines halben Fußballfeldes gab es vier Ticketschalter, von denen drei geöffnet und einer personell besetzt war. Fahrkarten gab es nur für vier, fünf Tage im Voraus. Statt der erhofften fünf bekam ich daher heute nur zwei Tickets. Jeweils von/bis Rioni, natürlich nicht ab Kutaissi I. Ich hatte meine Wünsche georgisch/englisch auf einen Zettel geschrieben mit allen notwendigen Angaben. Trotzdem mussten erst mal alle drei fahrkartenverkaufende Damen z.T. aus dem back office das Ding gründlich studieren und beraten, was zu tun sei. Ich hatte das Gefühl, die haben noch nie Fahrkarten verkauft, so kompliziert gestaltete sich der ganze Verkaufsprozess. Dabei waren in der Kasse immerhin schon ein paar Scheinchen drin. Es dauerte bestimmt 20 Minuten, bis ich meine 2 Fahrkarten in Empfang nehmen konnte. Wegen der anderen solle ich später wiederkommen, nächste Woche vielleicht.
In Kutaissi gibt es einen Bus, die Linie Nr. 1, die in beiden Richtungen im Kreis durch die ganze Stadt fährt. Mit ihr kommt man in Kutaissi fast überall hin, also auch zum Stadion. Hier drehte ich schon lange vor Spielbeginn eine gemütliche Runde, um nachher nochmal in der Stadt abzutauchen.
22.6.21 * Torpedo Kutaissi - Dinamo Batumi 2:2 * 19:30 Uhr * Erovnuli Liga (1. Liga) * Ramaz Shengelia Stadioni, Kutaissi * Zuschauer: 2 800 * Eintritt: nix
Bei der zweiten Ankunft im Stadion kam mir der Teamchef entgegen. An sein Markenzeichen, eine gut gefüllte Aktentasche (was da so alles drin ist, würde ich später noch herausfinden, zum Glück aber kein Gummihuhn) mit einer Hand lässig ans Becken gedrückt, werde ich mich nie gewöhnen können. Erinnerte mich irgendwie an Gottlieb Wendehals alias Werner Böhm. Hier und heute gab es weder Tickets, irgendwelche Kontrollen oder Catering, geschweige denn Programmhefte oder Fan-Devotionalien. Dafür aber ein Haufen Zuschauer, gute Stimmung, ein bisschen Pyro und ein ansehnliches Spiel - bei dem der Favorit vom Schwarzmeer sich überraschend mit einem Unentschieden begnügen dürfte.
Der anspruchsvolle Leser wird es mir nachsehen, daß der Bericht dieser Tour ab jetzt eventuell etwas weniger detailreich als sonst ausfällt. Ich war während der Reise gesundheitlich nicht so voll auf der Höhe und so hab ich auf das sonst obligatorische Notizen-Machen verzichtet. Nach acht oder mehr Wochen fällt mir natürlich insbesondere zu den Spielverläufen nicht mehr allzu viel ein. Das, was meine Erinnerung über die Zeit retten konnte, könnt ihr ab hier nachlesen. Dafür gab es beim Fotografieren keine Einschränkungen und selten hab ich in kurzer Zeit so massiv viele Fotos gemacht, wie in diesen Tagen in Georgien. Was natürlich die Besonderheit dieses Landes unterstreicht!
23.6.21 (6. Tag)
Privattransfer in einem Toyota Ipsum (gettransfer.com): Kutiassi - Zestafoni - Tchiatura - Sachkhere und zurück (ca. 180 km / 11 h) zu 139,50 EUR
Mein heutiger Fahrer (und gleichzeitig auch Guide) war Devid, so Anfang 30 und zum Glück kein geschwätziger Typ. Er war für meinen Auftrag am Vortag extra aus Tblissi hergekommen und blieb über Nacht bei seiner Schwester in Kutaissi. Wahnsinn! Als Betreiber eines kleinen Touristik-Unternehmens hatte er wegen Corona gerade harte Zeiten hinter sich. Ich fühlte mich bei ihm gut aufgehoben. Anders als in Armenien, wo ich auf dem Beifahrersitz serienweise Nahtod-Erlebnisse hatte, konnte ich hier (und auch in den folgenden Tagen) ganz entspannt sein.
Auf meine Frage, worin sich Georgier und Armenier seiner Meinung nach unterscheiden, zählte Devid zunächst die vielen Gemeinsamkeiten auf, um dann doch auf den Punkt zu kommen, den ich erwartet hatte. Beide Länder scheinen sicht nicht wirklich grün zu sein, was am offensichtlichsten bei der Position zu Russland wird: Während Georgien sich nach dem Krieg mit Russland 2008 und dem Verlust der Gebiete von Abchasien und Südossetien der NATO und dem Westen zugewandt hat, ist das arme Armenien auf Russland als Schutzmacht gegenüber dem reichen Aserbaidschan angewiesen.
In Zestafoni besichtigten wir kurz das Stadion. Schönes Eingangsportal, monströse Anzeigetafel, vorzeigbare Tribüne. Bevor der Security-Opa und sein Hundchen wach wurden, waren wir wieder draußen.
Unterwegs hatte ich Devid schon erzählt, daß es in der Stadt irgendwo eine Stalin-Statue geben solle. Wer es nicht weiß: Der Diktator Josef Dschughaschwili, genannt Stalin, war kein Russe, sondern Georgier. So wird bis heute zumindest von einem Teil der georgischen Bevölkerung ein Personenkult um diesen Mann betrieben. So wie ich es aus der Internetrecherche unterwegs verstanden hatte, sind nach Stalins Tod dessen Statuen aus den Straßenbildern der UdSSR verschwunden. Nur in Georgien haben wohl einige ganz wenige davon überdauert, aber es gab wohl immer mal wieder Anschläge auf diese Dinger. Ob man es glaubt oder nicht, tatsächlich wurden in den letzten Jahren mindestens 10 neue Stalin-Statuen in Georgien aufgestellt... da bin ich sprachlos! Als geschichtsbewußter Bürger aus der Bundesrepublik muß ich natürlich so ein schäbiges Teil irgendwo live sehen, um es in meine persönliche Statuen-Sammlung hinter Lenin, Mao und Clinton einreihen zu können.
Devid fragte am Taxistand nach und wir wurden 50 Meter weiter in den Hinterhof des Busbahnhofes geschickt. Dort lag tatsächliche eine Statue. Allerdings entpuppte sie sich nicht als Stalin, sondern als ein entsorgter Engel. Was für eine komische Szenerie! Ich bin zwar kein Mann der Kirche, aber Stalin sollte bei der Verschrottung stets den Vortritt haben. Engel, und ganz besonders die, die Michael heißen, sind streng zu schützen!
Während Devid zum Tanken fuhr, machte ich auf der Straßenseite gegenüber die Bekanntschaft von dem Wissenschaftler Giorgi Nikoladze. Wengistens mal kein in Stein gemeisselter Bad Boy! Das von ihm gegründete Werk verarbeitet noch heute Manganerz aus Tchiatura und versendet es in die ganze Welt.
Nächste Ausfahrt Katskhi-Säule. Das Ding ist ca. 40 m hoch und seit dem 10. Jahrhundert gibt es ein Klösterchen darauf. Dort lebt ein Einsiedler-Mönch. Frauen durften noch nie da rauf. Seit einiger Zeit dürfen auch Männer nicht mehr rauf: Steinschlaggefahr! Schade, ich hätte es ja gerne mal versucht. Allein schon eine Vorstellung von den sanitären Einrichtungen da oben zu bekommen, hätte mich gereizt.
Die Stadt Tchiatura in Worte zu fassen, ist unmöglich. Und auch Fotos können nur ungenau das abbilden, was Tchiatura ist. Tchiatura ist ganz besonders. Wahrscheinlich die abgefahrenste Stadt, die ich je bereisen durfte.
Devid schwärmte unterwegs (zu Recht) von Georgien, dessen langer Geschichte, seiner großartigen Kultur und faszinierenden, vielfältigen Natur. Als Guide kennt sich Devid überall in seinem Heimatland gut aus. Dachte ich! Als wir in Tchiatura ankamen, merkte ich schnell, daß er selbst – genau wie ich - zum ersten Mal hier war. Den ganzen Tag über würde er diese Stadt verfluchen und hundertmal schwören, nie, nie aber auch niemals wieder hierher zu kommen. Er glaubte sich auf einem fremden Planeten. Damit lag Devid gar nicht falsch! Umso dankbarer bin ich ihm, daß er mich doch in alle Ecken und Winkel von Tchiatura gefahren hat, wo immer ich auch hinwollte. Denn ich hingegen ahnte ungefähr, was auf mich zukommen würde und wußte genau, welche Stellen der Stadt ich sehen wollte.
Die Ankunft in Tchiatura glich dem Ende einer Reise in einer Zeitkapsel: Wir waren in der ehemaligen Welthauptstadt für Manganerzförderung angekommen, in der zwar noch etwas gefördert wird, aber sonst so ziemlich alles am Boden liegt. Aufgegebene Seilbahnen für den Transport von Erz und Bergleuten, die bewegungslos über uns im engen Tal baumeln, sind das Markenzeichen dieser Stadt am wirtschaftlichen Abgrund.
Für Touristen mag Tchiatura ein Alptraum sein. Für Reisende und für Liebhaber von LOST PLACES dagegen ist Tchiatura ein Paradies. Womöglich ist Tchiatura verloren, aber verlassen ist es noch nicht. Und hier gibt es sie tatsächlich noch heute, die glühenden Anhänger und Verehrer von Stalin. Ich würde einem von ihnen begegnen.
Direkt am Chiatura Cross und unweit eines Grubeneinganges befindet sich diese Hochhaussiedlung. Zu Sowjetzeiten müssen noch viel mehr Menschen hier gelebt haben. Die Gebäude stehen inzwischen leer und sind der Natur ausgeliefert. Beim näheren Hinsehen stellte ich aber fast, daß in einigen Türmen doch noch jemand hauste. Hier eine Satelitenschüssel, da eine Gardine und sogar weiter oben sogar flatternde Wäsche im Wind. Die Belegungsquote dürfte keine 5% betragen. Was sind das für Leute? Bergarbeiter der naheliegenden Mine? Oder Flüchtlinge aus Südossetien oder Abchasien? Ich weiß es nicht.
In dieser Szenerie wirkte eine Kuh, die einsam vor den Hochhäusern herumstand, mehr als deprimierend. Ein kleines Gestrüpp entpuppte sich als Garten, in dem auch kleine Küken herumflitzten. Bei der Inspektion einer leerstehenden Wohnung im Erdgeschoss eines der Hochhäuser begegnete ich einer zweiten Kuh. Tröstlich, daß ihr Artgenosse hier oben auf dem Berg nicht alleine ist.
Auf einer Internetplattform ist nachzulesen, daß es von 1992 bis 2004 in Tchiatura keinen Strom gab. Gas- und Wasserleitungen seien verrottet, weswegen überall mit Holzöfen geheizt würde. Das (räumliche) Ende der Welt könnte so aussehen, wie hier in Chiatura Cross.